Zugegeben, von Mischbatterien zu einem schlecht kommunizierenden Kanzler liegt eine lange Strecke. Drum heute die Frage: Wie geht eigentlich Deutschsein nach der Zeitenwende? Wir Nachkriegsgermans mussten das Deutschsein schon einmal neu lernen. Und jetzt stellen wir fest, dass dieses Lernen ein lebenslanges Projekt ist.
Nicht, dass unsere Vorfahren das Deutschsein jahrhundertelang geübt hätten. Im Gegenteil. Aber auf unserer jungen Republik liegt eine schwere Hypothek. Und Angesichts der einzigartigen Grausamkeiten, die im Nationalsozialismus mit einer angeblichen deutschen Identität gerechtfertigt wurden, dürfte entspanntes Deutschsein als Oxymoron gelten. Als habe unsere Geschichte den Begriff ‘deutsch’ auf ewig verstrahlt. Zumindest kippelt das als deutsch Bezeichnete wie ein Hocker mit zwei Beinen. Lässt man dieses Adjektiv allein, verläuft sich wie ein Kind, das den Weg nach Hause nicht findet, oder es stellt irgendwelchen Unsinn an. Eh man sich versieht, löst es hier eine Pazifismusdebatte aus, dort eine übergriffige Rassissmusbemerkung, oder es mischt bei Genderthemen auf. Allen gemeinsam: die gesammelte Hilflosigkeit angesichts des deutschen Erbes entlädt sich. Die mediale Gesellschaft führt immer irgendeinen Krieg gegen sich selbst. Ignorieren, etwas stehenlassen, unkommentiert, ohne moralische Einordnung: unmöglich. Empörungspflicht wird von den intellektuellen Führungskräften regelmässig eingefordert, ein Ritual. Kaum etwas beschreibt für mich das Deutschsein wie lebenslange Prozess der Selbsterziehung mit dem Ziel, etwas richtig zu machen, was man gar nicht richtig machen kann. Dass es für dieses Begehren kein Verb gibt, bedauere ich sehr, käme es doch überaus häufig zum Gebrauch. Aber es ist ja Zeitenwende, wie gut, da könnten wir durchaus ein paar neue Verben einführen.
Wie machen es die anderen mit dem neu erfinden? Unsere britischen Nachbarn haben bekanntermassen ordentlich grausam in ihren Kolonien rumgespukt. Wenn man sich auf der Insel aufhält spürt man aber schnell, dass die dunklen Kapitel britischer dieser Zeit kaum zu Brüchen in der eigenen Identität geführt haben. Im Gegenteil. Ein Mix aus commonwealth sensibility, Sieg über die Deutschen, Monarchie, Diplomatie, ruhmreicher Eliteschulen und Universitäten, Popkultur und dem vorbildlichen Journalismus der BBC konnte das entspannte Selbstverständnis der Briten nachhaltig befeuern. Nicht zu vergessen der legendäre Humor. Und die Glut dieser breit aufgestellten Glorie wärmt auch nach dem Brexit noch ein wenig, zumindest den fireplace at home.
Wir sehen den bunten britischen Glamour und Kulturmix und vergessen, dass in jeder Ethnie dort massgeblich auch die passende Elite mitspielt. Das Commonwealth macht Integrationsromantik überflüssig. In den Brexit getrieben wurde das Königreich indes von als lästig empfundenen Kontinentaleuropäern. Zu gleichberechtigt, zu selbstbewusst, zu wenig Klassenbewusstsein? Man kann und will diese fleissigen, anspruchsvollen foreigners aus beispielsweise Polen gar nicht näher kennenlernen, also besser raus mit ihnen. Russische Oligarchen, schwerreiche Saudis und gerissene Steuerdiebe are welcome, denn da stimmt die monetäre Größenordnung und, im Fall eines Skandals, der entertainment value. Seit den 1990er Jahren reisst ein wachsender globaler Geldstrom durch London und in die Insel und sein vulgärer Glamour und spült sich durch die Lebensräume derjenigen, die da nicht mehr mitkommen. Anfangs passte der Glanz vermögender Macht noch gut in die Komfortzone britischer Befindlichkeit. Die Konsequenzen kamen langsam, aber heftig: wenn Lehrer, Reinigungskräfte oder Krankenpfleger immer weiter vom Arbeitsplatz entfernt leben müssen, belastet das die Lebensqualität aller Bewohner einer Region. Der Verlust an Bodenständigkeit, der ständige Verdacht von Bestechung und Bestechlichkeit, das Ausnutzen von Privilegien – all das frisst sich allmählich in das Bild der britischen Gegenwart. Dass die Nichtvermögenden, hart arbeitenden foreigners beim Bemühen um ein besseres Leben bei vielen Engländern Brexit-Reflexe auslösten, wurde von den geschickt platzierten Lügen über die EU noch verstärkt. Man verwechselte Ursache und Wirkung und schmiss am Ende die falschen raus. Eine Kette von Fehlern, für die niemand Verantwortung übernehmen wird. Aber wird das irgendetwas am Selbstbewusstsein der Briten ändern? Nicht wirklich.
Gehen wir mit dem Einwanderungsthema in Deutschland vielleicht sogar besser um, als wir denken? Möchlich ist das, selbst wenn sich hierzulande viele Menschen – zurecht – schlecht behandelt fühlen. Wir behandeln schliesslich nichtmal uns selbst gut – und vielleicht liegt hier das grösste Missverständnis. In Deutschland herrscht, zumindest im öffentlichen Umgang, vorbildliche Gleichberechtigung: Jede wird angeschnautzt, jeder wird zurechtgewiesen, jede wegen fehlender Existenzberechtigungsunterlagen vom Bürgeramt nach Hause geschickt. Wir sind oft wirklich nicht nett, weder zu uns, noch zu euch, liebe Zugewanderten, also eigentlich zu niemandem. Dies ändert sich übrigens schlagartig, wenn man sich kennt oder das dominant am Geschehen beteiligte Gegenüber gute Laune hat. Dann wird es sogar richtig gut, versprochen. Aber das dauert halt. Fast überall auf der Welt geht es im öffentlichen Leben freundlicher zu als hier. Nur damit das mal geklärt ist. (Kommt mir jetzt bitte nicht mit Frankreich oder der Schweiz. Das gilt nicht.) Das verrückte an Deutschland, einem ziemlich gut funktionierenden Land: 90% seiner sozialgesellschaftlichen Probleme sind klimaneutral und billig mit gutem Benehmen zu lösen. Okay, 80 %. Ja, gut. 75%. Aber Probleme lösen wäre nicht typisch deutsch. Lieber erstmal Problem feiern, diskutieren, Gründe erfinden, warum man ein Problem auf keinen Fall lösen kann. Tempolimit 130 wäre sowas. Als Übersprungshandlung lösen wir dann mit hohem Aufwand Probleme, die keiner hat. So entstehen Rechtschreibreformen und Regeln wie die, dass laut StVO Blinde Menschen im eingeschränkten Halteverbot bis zu drei Stunden parken dürfen.
Freundlichkeit mag sich als Maßstab für die wahre Qualität von Beziehungen verbieten, aber ein Vergleich mit den unendlich freundlicheren, aber auch extrem brutalen USA macht immer Spass. Amerika, großer Spielplatz für Erwachsene und eine Petrischale für alle, die wissen wollen, was in ihnen steckt und in der tatsächlich alle gleich behandelt werden. Genauer: bis zu einem gewissen Einkommen alle gleich schlecht, und ab einem sehr hohen Einkommen alle sehr gut. Dazwischen, und vor allem in der amerikanischen Öffentlichkeit, ist man einfach freundlich und freut sich mit denen, die es geschafft haben. So strahlte es lange zu uns herüber, bis man hinter die Kulissen guckt und die Menschen aufspührt, die so ein System eben auch ignoriert. Glamour und Abgrund liegen dicht beieinander. Making it wird gern besonders dort als eigene Leistung verkauft, wo es in Wirklichkeit eine Mischung aus the privileg of education, hard work, und being in the right place at the right time ist.
Back in Germany: hier steht es mittlerweile nicht mehr so gut um unseren Wohlstand. Wenn wir Wohlstand sagen, meinen wir dann einen beliebigen Standard, erwachsen aus historischem Zufall und wirtschaftspolitisch gewolltem Konsumkonstrukt? Wer bestimmt, was man zum Leben braucht? Wir haben Angst, Vertrautes zu verlieren. Studien haben es oft bewiesen: der Schmerz des Verlusts ist spürbar grösser als die Freude am Vorhandenen. Brauchen wir aber 50 unterschiedliche Shampoos im Shop und 22 Grad beim Netflixgucken, oder wäre echte Teilhabe – beispielsweise durch staatlich subventioniertes Wohneigentum – am Auf und Ab der Wirtschaft nicht viel interessanter? Ich beobachte mich zwar manchmal selbst dabei, um ein paar Lieblingsprodukte zu bangen. Aber ich fand diese Annehmlichkeiten nie selbstverständlich, weder als als junger Mensch noch heute. Ich freue mich bei jedem Einkauf über die Tatsache, dass ich zu den Glücklichen gehöre, die sich gutes Essen leisten können. Dagegen finde ich machen Überfluss befremdlich, aber irgendwie war er eine logische Konsequenz globalisierten Wachstums. Und eine Alternative zur dieser Entfesselung hätte zu einem ideologischen Kampf geführt, den niemand wirklich gewonnen hätte. Vergossene Milch also. Wir müssen uns neu erfinden.
Die richtig gute Nachricht: wir alle können uns an neue Realitäten anpassen und sollten uns das zutrauen. Die grössten Talente des Menschen sind Adaption und Teamwork. So sind wir dahin gekommen, wo wir sind. Und für eine gute Teilhabe-, Friedens- und Energiebilanz darf und wird die Welt uns viel, viel mehr abverlangen, als sie das im Moment tut. Aber bitte, liebe Welt, nimm es von allen, die können, und nicht nur von denen, die ohnehin schon am Existenzminimum leben. Teilhabe ist ein Kriterium für Wohlstand, für Demokratie und für Weltrettung gleichermassen. Nur zusammen kriegen wir das hin.